Stellen Sie sich vor, morgens um 10.00 bekommen Sie einen Anruf von der Grundschule, wo Ihre Tochter die 3. Klasse besucht und die Ihnen mitteilt, dass Ihre Tochter bisher noch nicht in der Schule eingetroffen ist. Sie geben sich sehr erstaunt, ist doch Ihre Tochter pünktlich wie immer morgens vor 8.00 Uhr zur Schule losgegangen. Sie sind schon sehr besorgt, überlegen, den Schulweg abzufahren. 10 Minuten später ruft die Grundschule erneut an und teilt Ihnen mit, dass Ihre Tochter jetzt gerade in der Schule eingetroffen ist.

Als Ihre Tochter dann mittags wie gewohnt von der Schule zu Hause eintrifft, fragen Sie sie sofort, wo Sie heute morgen sich herumgetrieben hat. Sie sagt Ihnen, dass sie pünktlich zur Schule gegangen ist. Sie glauben ihr nicht recht und setzen sie unter Druck. Unter Tränen beharrt sie darauf, wie immer sofort morgens pünktlich in der Schule eingetroffen zu sein.

Wieder 10 Minuten später ruft die Schule erneut bei Ihnen an und entschuldigt sich: Es liegt eine Verwechselung vor. Ein anderes Mädchen aus der Parallelklasse mit dem selben Vornamen hatte sich verspätet, während Ihre Tochter pünktlich war. Die Sache hat sich damit geklärt.

Sie haben den Angaben der Schule bei ihrem morgendlichen Anruf geglaubt. Warum? Weil die Schule eine Autorität ist, weil die Schule selten und erst recht nicht ohne besonderen Grund bei Ihnen anruft. Kurz gesagt: Die Angaben der Schule waren für Sie absolut plausibel, und das sogar, obwohl Sie den Anrufer in Person gar nicht kannten und noch einmal wussten, ob der Anrufer wirklich von der Schule ist, wie er sich ausgab. Die Angaben waren sogar so plausibel, dass Sie  Ihrer eigenen Tochter misstraut haben! Sie sind peinlich berührt, Ihrer Tochter gegenüber vor allem, aber auch, wie leicht Sie selbst den, wenn auch ungewollt anfänglichen Falschangaben der Schule geglaubt haben.

Menschen neigen dazu, Geschichten, die ihnen – und zwar als erstes – erzählt werden, zu glauben, wenn sie schlüssig sind, also mit allgemeinen Erfahrungssätzen in Einklang zu bringen sind. Daran wird dann auch festgehalten, meistens sogar dann noch, wenn die Geschichte durch berechtigte Einwände objektiv gesehen schon gar nicht mehr glaubhaft erscheint. Psychologen und Kommunikationswissenschaftler nennen das „story telling“; bekannter geworden ist das gerade in letzter Zeit mit der Rhetorik von Donald Trump. Auch das von der ARD einigen Monaten kürzlich angestoßene „framing“ (Verwendung von mit einer positiven Stimmung assoziierten Begriffen, um einen Empfänger damit „einzufangen“) kann man hierzu zählen.

Was hat das aber alles mit einem Strafprozess zu tun? Ziemlich viel!

In einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sammelt praktisch die Polizei, bei komplexeren Sachverhalten in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft, die Fakten. Ein Beschuldigter oder sein Verteidiger haben auf das Zusammentragen dieser Fakten praktisch kaum Einfluss; ein Anwesenheitsrecht bei der Vernehmung von Be- oder auch Entlastungszeugen besteht z.B. nicht. Eine Akteneinsicht wird in der Regel erst zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens dem Verteidiger gewährt. Ergibt sich nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens darauf ein sog. hinreichender Tatverdacht, also eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass später eine Verurteilung durch das Strafgericht erfolgt, wird Anklage erhoben. Ist die von der Polizei festgestellte „story“ stimmig, ist sie also Grundlage der Anklageschrift.

Der zuständige Strafrichter liest die Anklageschrift und lässt sie zur Hauptverhandlung zu, wenn er ebenfalls eine spätere Verurteilung für wahrscheinlich hält, was in der Praxis fast immer der Fall ist.  Ebenso ist in der Praxis in der späteren mündlichen Strafverhandlung derjenige Richter, der bereits die Anklageschrift zugelassen hat. Damit steht es, bevor die Hauptverhandlung überhaupt begonnen hat, schon einmal 1 : 0 für die Staatsanwaltschaft: Psychologisch (aber nicht juristisch) gesehen ist jeder Richter voreingenommen, da er der „story“ aus der Anklageschrift mindestens in gewissem Maße zulasten eines Angeklagten glaubt.

Nehmen wir einmal das oben erwähnte Beispiel aus der Schule. Nehmen wir abweichend davon aber an, die Tochter war schon mehrfach unentschuldigt zuvor gar nicht zur Schule gekommen, weiter, dass die Verwechselung mit dem Mädchen aus der anderen Klasse der Schule auch später nicht aufgefallen ist.

Schulschwänzen ist für die Eltern von Schülern zwar nicht strafbar. Häufiges Schulschwänzen wird in der Praxis aber durchaus von mit der Erlass eines Bußgeldbescheides, also ähnlich wie bei Verkehrsdelikten (Rasen, Rotlichtverstoß etc.) geahndet. Nehmen wir also an, es ergeht gegen den Vater ein Bußgeldbescheid, der hiergegen Einspruch einlegt, weil er seiner Tochter (zu Recht) glaubt, dass sie pünktlich in der Schule war. Dann kommt es zu einer Verhandlung bei einem Amtsgericht, was sehr ähnlich wie in einer Strafverhandlung abläuft.

Die Ermittlungen vorab hatte die Polizei (oder eher die Schulverwaltung) vorgenommen, wo eben festgestellt wurde, dass die Tochter (angeblich) nicht den Tag zur Schule gekommen ist. In der Gerichtsverhandlung werden dann der Polizeibeamte und die Schulsekretärin als Zeugen vernommen, die versichern (in Unkenntnis der Verwechselung mit dem anderen Mädchen), dass die Tochter den Tag nicht erschienen ist in der Schule.

Nahezu jeder Amtsrichter glaubt dieser story, mag der „angeklagte“ Vater noch so sehr seine Unschuld und die seiner Tochter vor ihm beteuern. Sie ist angesichts der Neutralität der Zeugen, gerade auch noch als Beamten, absolut glaubhaft.

Was kann da noch ein Verteidiger machen, um eine Verurteilung zu verhindern?

Schlichtweg eine andere story erzählen. Und zwar eine, die jedenfalls in etwa auch genauso glaubhaft ist im Verhältnis zu der aus der Anklageschrift bzw. dem Bußgeldbescheid. Das erfordert aktive Tätigkeit. In diesem Beispiel wird der Verteidiger aktiv einen Beweisantrag stellen, das Schulbuch der Klasse mit der Anwesenheitsliste zu verlesen und die Lehrerin und ggf. sogar Mitschüler als Entlastungszeugen zu  vernehmen, wonach die Tochter sehr wohl den Tag in der Schule war. Nur so kann die erste story entkräftet werden.

„Story telling“ ist in Strafprozessen die Realität. Die von der Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift erzählte story mag objektiv gesehen häufig an die Realität heranreichen, also der Angeklagte auch wirklich schuldig sein. Fatal ist es, wenn es nicht so ist, weil jeder Angeklagte es dann enorm schwierig hat, gegen die story aus einer Anklageschrift anzukämpfen.